Über die Natur der Liebe
Aus der Rede des Aristophanes in Platons ‘Symposion (Das Gastmahl)’.
Nach der Übersetzung von Franz Susemihl (1855).
Unsere ehemalige Naturbeschaffenheit war nämlich nicht dieselbe wie jetzt, sondern von ganz anderer Art. Zunächst gab es damals drei Geschlechter unter den Menschen, während es heute nur zwei gibt, das männliche und das weibliche; damals kam noch ein drittes, aus diesen beiden zusammengesetztes hinzu.
Das männliche stammte ursprünglich von der Sonne, das weibliche von der Erde, das aus beiden gemischte vom Monde; deshalb waren sie selber und ihr Gang kreisförmig, um so ihren Erzeugern zu gleichen. Sie waren daher auch von gewaltiger Kraft und Stärke und gingen mit hohen Gedanken um, so dass sie sich an die Götter selbst wagten; denn was Homer von Ephialtes und Otos erzählt, das trifft auf sie zu, dass sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen.
Zeus und die übrigen Götter hielten nun Rat, was sie mit ihnen anfangen sollten, und sie wussten sich nicht zu helfen; denn sie wollten sie nicht töten und ihre ganze Gattung zugrunde richten, wie sie einst die Giganten mit einem Blitz zerschmettert hatten – denn damit wären ihnen zugleich auch die Ehrenbezeugungen und Opfer der Menschen entgangen – noch konnten sie sie ungestraft weiter freveln lassen.
Endlich nach langer Überlegung sprach Zeus: »Ich glaube ein Mittel gefunden zu haben, wie die Menschen erhalten bleiben können und doch ihrem Übermut Einhalt geschieht. Ich will nämlich jeden von ihnen in zwei Hälften schneiden, und so werden sie zugleich schwächer und uns nützlicher werden, weil ihre Zahl größer wird, und sie sollen nunmehr aufrecht auf zwei Beinen gehen.
Seit damals ist die Liebe zu einander den Menschen eingeboren und sucht die alte Natur zurückzubringen und aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu heilen. Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, zwei aus einem, sind. Daher sucht jeder beständig seine andere Hälfte.
Wenn nun dabei einmal der Liebende auf seine wirkliche andere Hälfte trifft, dann werden sie von wunderbarer Freundschaft, Vertrautheit und Liebe ergriffen und wollen, um es kurz zu sagen, auch keinen Augenblick voneinander lassen. Und diese, welche ihr ganzes Leben mit einander zubringen, sind es, die doch auch nicht einmal zu sagen wüssten, was sie von einander wollen.
Und wenn zu ihnen, während sie das Lager teilten, Hephaistos, der Gott der Schmiede, mit seinen Werkzeugen heranträte und sie fragte: »Was wollt ihr Leute denn eigentlich voneinander?« und sie, wenn sie es ihm nicht zu sagen vermöchten, von neuem fragte: »Ist es das etwa, möglichst an demselben Ort mit einander zu sein und euch Tag und Nacht nicht voneinander zu trennen? Denn wenn euch danach verlangt, so will ich euch in eins verschmelzen und zusammenschweißen, so dass ihr aus zweien einer werdet und euer ganzes Leben wie ein Einziger gemeinsam verlebt, und, wenn ihr sterbt, auch euer Tod ein gemeinschaftlicher sei, und ihr dann auch im Hades einer statt zweier seid. Darum seht zu, ob dies euer Begehren ist und ob dies euch befriedigen würde, wenn ihr es erlangtet« – wenn sie, sage ich, dies hörten, dann würde gewiss kein Einziger es ablehnen, sondern jeder würde gerade das gehört zu haben glauben, wonach er sich schon sehnte: vereinigt und verschmolzen mit seinem Geliebten aus zweien eins zu werden.
Bild: Apollon ausnahmsweise mal im Kuppelzelt auf dem Place Masséna in Nizza. Apollon ist in der griechischen und römischen Mythologie der Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung sowie der Weissagung und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs; außerdem war er der Gott der Bogenschützen. © artofexpression.fr